Schlanke Urwaldriesen, die ein Kirchenschiff bilden oder Wasserblasen, die zur Fassade werden: Die Natur liefert vielfältige Vorbilder, die auch in der Architektur funktionieren. Architekten bedienen sich zunehmend natürlicher Konzepte und Strukturen – und übersetzen diese in wegweisende Projekte.
Schwimmanzüge, die nach dem Vorbild von Haifischhaut entwickelt werden, befinden sich auf dem Terrain der Bionik, bei der an die Natur angelehnte technische Lösungen im Vordergrund stehen. Gebäude, die wie Vogelnester aufgebaut sind fallen unter das Stichwort „Biomimicry“: Die noch relativ junge Disziplin entwickelt, inspiriert von der Natur, unter anderem innovative Organisationsstrukturen, Prozesse und systemische Lösungen. So gibt es inzwischen Systeme in der Schiffskommunikation, die auf der Ultraschall-Kommunikation von Delphinen beruhen. Auch Architektur und Design lernen von der Natur – und entwickeln daraus (neue) Prinzipien für Gestaltung, Organisation und Konstruktion.
„Die Natur wie ein Buch lesen“
Doch schon lange bevor Biomimicry als Begriff defniert wurde, nahmen sich Architekten die Natur zum Vorbild: Inspiriert von in der Natur existenten Geometrien entwarf Antoni Gaudí seine Sagrada Família. Seit 1882 wird an der immernoch unvollendeten Kirche gebaut. Wie ein Wald aus hohen Bäumen wirkt der Innenraum – die schlanken Stützen verzweigen sich gleich Ästen und Zweigen nach oben hin und bilden so die Tragstruktur des Kirchenschiffes. Es wird vermutet, dass Gaudí sich bei den von ihm konstruierten doppelt gedrehten Säulen an der Geometrie von Oleanderzweigen orientierte. Dass nicht noch viel mehr Architekten sich in dieser Weise an der Natur orientierten, erstaunte ihn – für ihn war die Natur wie ein Buch, das man nur richtig lesen musste.
Aus Waben werden Fassaden
Ein weiteres Beispiel aus Beijing orientiert sich gleich in doppelter Hinsicht an Wasser: Der Water Cube beherbergt das nationale Schwimmzentrum. Gehüllt ist das Zentrum in eine Fassade aus unregelmäßigen Waben, die organisch ineinander greifen – die Struktur von aneinanderhängenden Wasserblasen stand Pate. Die einzelnen Waben der Außenhaut und des Daches wurden mit Folienelementen aus hellblauer ETFE-Folie bespannt, auf die Videos projiziert werden können und die gleichzeitig der passiven Nutzung der Sonneneinstrahlung dienen, zur Beheizung von Wasser und Luft. Innen setzt sich das Waben-Prinzip fort und bildet mit einem mehrere Meter dicken Raumfachwerk auch die Tragstruktur des Gebäudes.
Gewebter Unterschlupf
Ähnlich leicht präsentiert sich ein Pavillon aus Karbonfasern, der am Institute for Computational Design (ICD) an der Universität Stuttgart entstanden ist. Vorbild sind die so genannte Elytren, die festen Deckflügel von Käfern, die stellenweise durch stärkere Chitinisierung verdickt sind und so bestimmte Strukturen aufweisen.
Der Pavillon übersetzt das Prinzip in die Architektur: Aus Karbonfasern wurden mit Robotertechnik 36 individuell geformte Elemente gewoben, die eine äußerst materialeffiziente Konstruktion bilden. 2,6 Meter ist das größte Element im Durchmesser bei einem Gewicht von nur 24,1 kg. Die gesamte Konstruktion überspannt eine Fläche von 50 m² und wiegt 593 kg.
Die Weisheit der Natur nutzen
In fast vier Milliarden Jahren Evolution sind überaus erfolgreiche Tiere und Pflanzen entstanden. Grund genug, diese Konzepte auf andere Bereiche zu übertragen und weiter zu denken. Auch Interface, Hersteller textiler Bodenbeläge, entwickelt nach dem Prinzip der Biomimicry Produkte, die von der Natur inspiriert sind. Zufällige Farbkombinationen, wie sie zum Beispiel gefallenes Herbstlaub hervor bringt, können mit dem Prinzip des sogenannten „Random Design“ auch auf modularen Bodenbelag übertragen werden, so zum Beispiel bei dem Design-Produkt „Composure“. Vorteil: Die unterschiedlich gemusterten Module können nach dem Zufallsprinzip verlegt und so der Verschnitt auf bis zu 1 % reduziert werden.